Die Kirche im Sarg
 

Die Kirche im Sarg

Heutzutage stehen wir Yondertoner - ich sage das mit einem gewissen Lokalstolz- in dem Ruf, eine christliche Gemeinde zu sein. Und zwar nicht im Sinn einer erheuchelten, 
engstirnigen Frömmelei, sondern in einer schlichten, freundlichen, hilfsbereiten Art und Weise. So war es aber nicht immer.

Kälte, Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit, das war die Atmosphäre hier in Yonderton, als der Pfarrer Herbert Wright sein Amt antrat. Am ersten Sonntag predigte er in einer völlig leeren Kirche. Am zweiten Sonntag war es genauso. Und wenn der junge Pfarrer an den Werktagen seine Gemeindeglieder besuchte, um die kalte Gleichgültigkeit zu überwinden, erging es ihm nicht besser. "Die Kirche ist tot" sagte man ihm, "tot ohne irgendwelche Hoffnung auf Wiederbelebung." Aber - am Donnerstag nach jenem zweiten Sonntag geschah es, dass eine Anzeige in der Zeitung des Nachbarortes erschien.

Sie stand als erste Nachricht in der Spalte "Neues aus Yonderton" und war in Form einer Todesanzeige gehalten. Sie lautete: "Mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns und mit Zustimmung seiner Gemeinde meldet Herbert Wright, Pfarrer zu Yonderton, den Tod der Kirche St. Francis zu Yonderton. Trauer- und Gedächtnisfeier findet am Sonntagmorgen um 11 Uhr statt. Die Bewohner von Yonderton sind hiermit herzlichst eingeladen, an diesem letzten Akt ihrer Dorfkirche teilzunehmen."

Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass sich diese Zeitungsnachricht wie eine Sensation verbreitete. Die Ansichten hierüber waren verschieden: Einige Leute meinten, es sei weiter nichts als Geschwätzigkeit des neuen Pfarrers, andere glaubten, der Pfarrer sei nicht ganz klar. Was aber auch immer geredet werden mochte, eines war sicher: Die Zeitungsanzeige hatte erreicht, was sie erreichen sollte. Am Sonntag schon früh um 10 Uhr erlebte Yonderton eine wahre Invasion. Um halb elf Uhr war die bis dahin verachtete und stark verschmutzte Kirche gedrängt voll.

Als ich die Kirche betrat, sah ich sogleich einen Sarg auf einer Bahre vor dem Altar stehen. Es war ein schlichter Eichensarg, nur mit einem vergoldeten Kruzifix geschmückt. Und obwohl es ein heller, sonniger Tag war, so wirkte das Innere der Kirche durch die verschmutzten Fenster und durch die dunkle Kleidung der dichtgedrängten Anwesenden melancholisch und bedrückend.

Im krassen Gegensatz zu diesem düsteren Hintergrund stand der Sarg im goldenen Sonnenlicht. Da einige Dachziegel fehlten, konnten die Sonnenstrahlen mühelos durch das Netz von Spinnengeweben im Dachstuhl hindurchdringen. Pünktlich um 11 Uhr bestieg der Pfarrer die Kanzel; nachdem er einen Augenblick mit gesenktem Haupt in stillem Gebet verweilt hatte, hob er an zu sprechen.

"Meine Freunde, bevor wir mit unserer Trauerfeier beginnen, möchte ich eine Bitte äußern: Ich habe nicht die Absicht, auswärtigen Kirchgängern den Zutritt zu dieser Kirche zu wehren, aber bei dieser einen Gelegenheit bitte ich alle, die nicht in unserer Gemeinde wohnen, das Gotteshaus zu verlassen, um unseren Gemeindemitgliedern Platz zu gewähren."

Einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen, dann erhoben sich viele der Anwesenden und verließen die Kirche. Auch der Pfarrer ging hinaus, und wir hörten, wie er die eigenen Gemeindeglieder, die keinen Platz gefunden hatten, einlud, hereinzukommen. Sie kamen in Scharen. Alle Plätze waren besetzt, und in den Gängen stand man dichtgedrängt beieinander.

"Meine Freunde",  begann der Pfarrer, "ich hoffe, dies ist das erste und letzte Mal gewesen, dass ich vor auswärtigen Kirchgängern die Türen dieser Kirche schließe; aber ich war der Meinung, das, was ich Ihnen heute zu sagen habe, sei eine private Angelegenheit, nur für unsere kleine Gemeinde bestimmt. Wenn ich Sie nun bitte, nicht über die Sache außerhalb der Gemeinde zu reden, so habe ich nur die Absicht, keine unwürdige Schwätzerei hierüber entstehen zu lassen."

Nun begann der Pfarrer in einer Art Amtston zu sprechen. "Sie haben es mir klargemacht, dass Sie ernstlich davon überzeugt sind, unsere Kirche sei tot. Sie haben auch keinerlei Hoffnung auf Wiederbelebung; ich möchte nun diese Ihre Meinung auf die letzte Probe stellen. Bitte, gehen Sie alle, einer nach dem anderen, an diesem Sarg vorüber, und sehen Sie sich den Toten an; dann verlassen Sie die Kirche durch das Ostportal!" Alle Augen waren auf den Sarg gerichtet. "Danach werde ich die Trauerfeier allein beschließen. Sollten aber einige von Ihnen ihre Absicht ändern und wären auch noch so wenige unter Ihnen der Meinung, eine Wiederbelebung der Kirche sei vielleicht doch noch möglich, dann bitte ich diese, durch das Nordportal wieder hereinzukommen. Statt der Trauerfeier würde ich dann einen Dankgottesdienst halten."

Ein bedrückendes Schweigen folgte diesen Worten. Der Pfarrer trat an den Sarg und öffnete ihn. Einer der letzten in der Prozession war ich, und so hatte ich Zeit genug, darüber nachzudenken: "Was ist eigentlich die Kirche, woraus besteht sie? Wer wird wohl in dem Sarg liegen? Wird es vielleicht ein Bild des gekreuzigten Heiland sein? Aber nein, das kann nicht sein; denn auf den Tod des Herrn ist ja die Kirche gegründet. Lebt denn die Kirche überhaupt? Und wenn sie lebt, kann sie sterben?" Ähnliche Gedanken hatten vielleicht meine Nachbarn, denn ich merkte, dass uns ein Schaudern und Gruseln überkam, je mehr wir uns dem Sarg näherten. Dazu erschreckte uns ein schrilles Knarren und Quietschen, das Nordportal drehte sich in seinen verrosteten Angeln, herein trat eine kaum zu zählende Schar.

Und nun war es soweit, dass ich die tote Kirche sehen sollte. Unwillkürlich schloss ich die Augen, als ich mich über den Sarg beugte. Als ich die Augen öffnete, sah ich nicht die ganze Kirche kalt und leblos im Sarg liegen, sondern nur - eines ihrer toten Glieder: Ich sah mich selbst - im Spiegel.

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1. Was sagt diese Geschichte?

2. Was haben die Yondertoner wohl 
2.  gemacht, um Abhilfe zu schaffen?
3. Was müsstest du, was müssten wir 
3.  ändern, damit die "Kirche nicht 
3.  begraben" werden muss?


 
 
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