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Das kleine Archiv


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Abt Fidelis Ruppert OSB
Abtei Münsterschwarzach



Festansprache zum 50-jährigen Jubiläum der Missionsärztlichen Klinik am 13. Juli 2002

Exzellenz, Herr Regierungspräsident, Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Festversammlung, besonders all jene, die hier in der Klinik und für die Klinik arbeiten! Vor einiger Zeit hörte ich folgende Geschichte: Eine Krankenschwester, die in der Sterbebegleitung tätig war, sollte auch einen Arzt besuchen, der krebskrank war und zwar in der Endphase. Dieser Arzt war bekannt dadurch, daß er von Gott und Kirche gar nichts hielt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch abfällige und aggressive Bemerkungen zu diesem Thema machte. Die Schwester war etwas zögerlich und unsicher, als sie das Zimmer des todkranken Arztes betrat. Sie setzte sich an sein Bett und sagte: Ich bleibe einfach ein wenig hier sitzen und bete ganz still. Nach einiger Zeit sagte der Arzt: Beten Sie laut! Die Schwester war ganz verdutzt, betete ein Gebet und schwieg wieder. Da herrschte er sie nochmals an: Beten Sie laut! Alles! Die Schwester betete und betete alles, was ihr so an Gebeten einfiel. Der Arzt hörte still zu und sagte nichts. Er versank in tiefes Nachdenken. Ich weiß nicht, wie die Geschichte wirklich zu Ende ging. Aber hier geschah wohl etwas, das viele von uns auch kennen: Eine Klinik ist nicht nur da, um Kranke zu heilen oder auch mal nicht. Eine Klinik ist ein Ort, an dem sich auch viele existenzielle Geschichten abspielen: Lebensgeschichten  - Todesgeschichten - Glaubensgeschichten. Das war wohl immer schon so. Aber es hat heute eine neue Dringlichkeit, weil viele Menschen erst wieder bei Krankheit, Unglück oder im Angesicht des Todes an ihre innersten Fragen kommen und dann Hilfe brauchen. Die Hospizbewegung, die verschiedenen Formen der Trauerarbeit und der Sterbebegleitung und natürlich jeder Klinikseelsorger - wissen davon ein Lied zu singen; sie wissen auch, dass es dann nicht irgendwie ums Trösten geht, sondern um das Eröffnen neuer Räume von Sinn, von Glaube, vom Hineingehen in eine neue Weite des Herzens. Aber wie begegnen wir Menschen in einer solchen Extremsituation ihres Lebens? Sind wir darauf gefasst, irgendwie darauf vorbereitet? Haben wir für uns selber schon Antworten auf diese Fragen, wenigstens ansatzweise?


Gestatten Sie, dass ich an diesen Fragen ein wenig entlanggehe: Wenn solch eine schwierige Frage auf mich zukommt, blättere ich im Geiste in der Bibel oder in der Benediktsregel. Ich überlege dann, ob eines der Worte, über die ich mal gestolpert bin, auf diese Frage passt. Ich möchte meine Überlegungen mit solch einem Stolperwort aus der Benediktsregel beginnen: Es gibt in unserer Regel ein Kapitel über die Demut. Klingt nicht gerade modern. Viele Jahre lang habe ich gedacht, dass sich Benedikt dieses Kapitel hätte sparen können. Es ist auch noch das längste in der ganzen Regel und spricht zu allem Überfluss auch noch von 12 Stufen der Demut. Es dauerte viele Jahre, bis ich ahnte, warum dieses Kapitel doch wichtig ist. Es ging mir langsam auf, dass es bei der Demut nicht darum ging, wie man den Menschen klein macht oder gar klein kriegt, sondern wie man möglichst viel Raum schafft, dass Gott die wichtigste Größe im Leben werden kann. Am meisten habe ich bisher an der 4. Demutsstufe herumgeknobelt, und zwar besonders dann, wenn ich am liebsten alles hingeworfen hätte. Der Text spricht an dieser Stelle davon, dass der Mönch in Situationen kommt, wo er sich in die Enge getrieben fühlt, wo all das, was ihm widerfährt und was man mit ihm macht, kaum noch auszuhalten ist und er am liebsten davonlaufen würde. Als der Text nun verschiedene schwierige Situationen beschrieben hat, sagt er plötzlich, der Mönch soll sich von der Hl. Schrift den Psalmvers sagen lassen: Dein Herz sei stark und ertrag den Herrn! (Ps 26,14) Dein Herz sei stark und ertrag den Herrn! Das ist erstaunlich. Er sagt nicht: Ertrag halt deine Mitbrüder oder deine hartnäckigen Oberen. Er sagt: Ertrag den Herrn! Er ist es, der dir das alles auflegt. Die Sache wird immer ärgerlicher und schwieriger. Also: Gott verhängt dann das Leid?! Womöglich noch für die Sünden, um uns zu strafen und zu zwiebeln?! Das könnte man sich so denken, aufgrund mancher Kindheitserfahrungen. Aber hier ist es nicht so gemeint. Wenn man den Text weiterliest, zitiert er einen anderen Psalm (65,10): Gott, du hast uns geprüft, uns im Feuer geläutert, so wie man Silber im Feuer läutert. Hier soll ein Mensch geläutert werden, d.h. er soll reifer und heiler werden. Es handelt sich ja um eine Stufenleiter des geistlichen Wachstums, ähnlich den Stufen einer Initiation. Das Bild spricht vom Silber, das im Schmelzofen geläutert, von Unreinheiten gereinigt wird, damit das reine Silber übrigbleibt und in Reinheit und Echtheit erstrahlt. Das bedeutet: was hier am Menschen geschieht, soll ihn kostbarer und reifer machen. In der Vigilfeier am Vorabend einer Profess auf Lebenszeit singen wir einen ähnlichen Text aus dem Buch Jesus Sirach (2,1.5): Mein Sohn, wenn du dich aufmachst, um dem Herrn zu dienen, mach dich auf Versuchung gefasst... Denn im Feuer wird das Gold geprüft, und jeder der Gott gefällt im Schmelzofen der Bedrängnis. Also Schwierigkeiten aller Art, um geläutert zu werden wie Silber und Gold im Schmelzofen. Der Schmelzgrad von Silber und Gold liegt jeweils bei einer Temperatur von etwa 1000 Grad Celsius. Eine ganz schöne Hitze. Das bedeutet, dass man einem Mönch am Vorabend seiner endgültigen Bindung sagt, dass er durch einen Schmelzofen gehen muss und dass die Schwierigkeiten, in die er fällt, unausweichlich sind. Sie gehören sozusagen zur Versuchsanordnung, zu seiner Stellenbeschreibung. Sie gehören zu seinem Lebensweg und sind für den Weg mit Gott unausweichlich, sonst entsteht weder Silber noch Gold, nichts Echtes und Wahres. In unsrer manchmal etwas unreflektierten Lebenshaltung haben wir so die Vorstellung, dass Leid und Unglück so etwas ist wie ein Missgeschick, das doch zu vermeiden wäre. Eigentlich müsste es uns doch gut gehen. Und wenn Gott wirklich gut ist, wieso lässt er es uns dann schlecht gehen? Und dabei wissen wir bei etwas Nachdenken, dass Leben ohne Leid nicht möglich ist. Dass Kinder, die nicht gefordert werden, nie wirklich erwachsen werden. Und wie oft haben wir schon gesagt, dass wir das oder jenes Problem zwar nicht nochmals durchstehen wollten, aber dass wir dadurch eine Menge gelernt haben und an dem Leid viel reifer geworden sind. Na also?! Hat der heilige Benedikt doch nicht so ganz Unrecht, wenn er sagt, dass der Herr selber es aufgelegt hat. Manchmal ärgern mich solche Gedankengänge und diese Texte der Benediktsregel. Vor allem dann, wenn ich in schmerzliche Probleme rutsche, an denen eindeutig andere schuld sind. Es ist dann durchaus sinnvoll, sich zu wehren und die Sache mutig auszuhandeln. Aber wie oft nützt das auch nichts. Es gibt genug garstige Lebenssituationen oder Unfälle oder Krankheiten, an denen man zunächst mal nichts machen kann. Man kann sie aushalten oder daran zerbrechen oder daran wachsen. Das hängt auch davon ab, wie ich mich entscheide oder wie ich meine miese Situation interpretiere. Schon wenn ich mir sage, dass Leid und Schmerz und Krankheit ganz normal zum menschlichen Leben gehört, fange ich an, mich nicht mehr nur blind zu wehren. Ich fange an darüber nachzusinnen, wie ich mit dieser schwierigen oder ärgerlichen Situation umgehen kann.
Manchmal fragen mich Menschen: Herr Pater, warum hat Gott mir das geschickt?! Ich sage immer: Das weiß ich nicht. Das werden wir auch nie herausbekommen. Aber eines weiß ich: Gott will bestimmt nicht, dass Sie daran kaputt gehen. Er will, dass Sie weiterleben, weitergehen, dass sie daran reifer werden. Und wenn Sie wollen, können wir mal darüber nachdenken, wie das aussehen könnte. Wenn sich jemand darauf einlässt, hört er auf, nur an einem
unlösbaren Warum herumzuknabbern und er fängt an, einen Weg vorwärts zu suchen zum Licht, in eine neue Freiheit. In diesem Zusammenhang habe ich auch schon viel an dem Wort herummeditiert, das im Buch des Dulders und Gottesstreiters Hiob steht: Gott schlägt; doch seine Hände heilen auch. (Hiob 5,18) Gott schafft Probleme, aber er weiß durch sie hindurch zu führen, wie durch einen Heilungs- und Klärungsprozess. Bei dem nun folgenden Gedanken habe ich lange gezögert, ob ich ihn darlegen soll. Es geht um etwas sehr Persönliches. Aber ich sagte mir schließlich, dass das Thema um das es in dieser Ansprache geht, keine Theorie verträgt, sondern nur durch existenzielle Erfahrung verständlich wird. Also erzähle ich es: Vor einigen Monaten hatten wir in der Gemeinschaft einen Suicid. Ein junger Mitbruder war in unglaublich kurzer Zeit in eine tiefe Depression gerutscht, und selbst kompetent eingeleitete Therapie und viel persönliches Bemühen konnten den Suicid nicht verhindern. Schock und Trauer hatten die Gemeinschaft gelähmt, mich auch. Warum? Warum? Wir kamen nicht weiter. Warum? Es blieb alles absolut unerklärlich, nicht einmal eine Schuld oder einen Schuldigen konnten wir entdecken, an dem wir uns hätten festbeißen können. Völlige Sprachlosigkeit. Blanke Hilflosigkeit. Nicht-Verstehen. Dann kam mir plötzlich, wie von selbst, ein Wort in den Sinn, Jesaja 55,8: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege. Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. Ich horchte auf: Meine Gedanken sind himmelhoch anders als eure Gedanken und eure Wege. Da gab es plötzlich größere Gedanken, weitere Wege, gewaltigere Räume als mein kleines Geschocktsein. Da gab es einen weiten Atem, der mein eigenes enges Wollen oder Nichtwollen einfach sprengt. Ich wurde ganz still. Ich merkte, dass ich an ein Geheimnis gestoßen war, vor dem ich nur noch schweigen konnte. Und dieses Schweigen tat gut. Es machte weit. Ich hatte dann die Gelegenheit, dieses Jesaja-Wort meiner Gemeinschaft zu sagen. Es war für viele wie eine Erlösung, aus dem engen Warum? herauszukommen. Dieses Bibelwort war keine Antwort auf das schreckliche Geschehen. Aber es öffnete einen weiten Raum, den Raum des Geheimnisses Gottes, eines Gottes, der nicht mehr auf unsere Denk- und Wunschkategorien reduziert ist, eines Gottes, in dessen schweigendes Geheimnis wir hineingehen können.

Auf einmal wird das Herz weit. Man versteht immer noch nichts, hat immer noch keine handliche Antwort auf sein Warum, aber es entsteht eine Erfahrung von Sinn, von Tiefe und von Verstandenwerden. Als wir später Rückschau auf dieses schockierende Ereignis hielten, sagten viele von sich, dass diese Erfahrung, das Durchgehen durch diese Erfahrung sie in eine neue Weite geführt hätte und dass dieses Ereignis summa summarum so etwas wie eine Bereicherung für unsere Gemeinschaft sei. - Das kann man nur ganz leise und ganz behutsam sagen, sonst wird es falsch. Und dazu muss ich nochmals die Benediktsregel zitieren, wieder aus dem Demutskapitel, wo Benedikt sagt, der Mönch solle in einer absolut ausweglosen Situation den Psalmvers sagen: Ich bin wie ein dummes Tier vor Dir und bin doch immer bei Dir. (Ps 73) Ein wunderschönes Bild, das mich schon oft getröstet hat! Der Mensch fühlt sich hilflos und schwach wie ein dummes Tier, aber er fühlt, dass Gott immer bei ihm ist. Gleichzeitige Erfahrung von extremer Schwäche und von Gottes starker Gegenwart. Leid kann auch Gnade sein, kann zu Gott führen und einen Menschen still machen, wie den Arzt, von dem ich am Anfang erzählt habe. Ein schneller Herztod wäre vielleicht ein gnädiger Tod gewesen wie wir manchmal etwas unreflektiert sagen, aber das längere Siechtum war wohl doch die größere Gnade, weil dieser Mensch still und nachdenklich werden und das Geheimnis seines Lebens ihn nochmals anrühren konnte mit der Chance, in eine größere Weite und Tiefe hineinzuwachsen. Damit komme ich ans Ende meiner Ausführungen. Es gäbe noch viele Fragen zu stellen, bedrängende Fragen, und es gäbe viele Antworten zu versuchen. Aber Herr Radler hat mir nur 20 Minuten gegeben, weil anschließend das Festbüffet auf uns wartet. Das war eine gute Entscheidung, Herr Radler. Jetzt haben Sie alle die Chance, meine unfertigen Gedanken bei sich selber weiter zu denken. Ich hoffe, dass ich Ihnen keine Lösungen geboten habe, aber dass Sie jetzt Lust verspüren, einigen alten und neuen Fragen nachzugehen, daran herumzuknobeln, mit ihnen zu kämpfen, um in neue Räume vorzustoßen, Sinn-Räume und Gottesräume. Und dann besteht vielleicht auch die Chance, dass Sie andere Menschen, die verzweifelt oder hoffnungslos sind, an der Hand nehmen und sie in neue Sinn-Räume und Gottesräume führen können, die Sie selber entdeckt haben, vielleicht auch unter großen Schmerzen.

Nun noch ein Glückwunsch zum Jubiläum der Klinik: Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass die Missionsärztliche Klinik nicht nur ein Ort hoher medizinischer Kompetenz ist und bleibt, sondern dass alle, die hier beschäftigt sind, auch eine Mission darin sehen, dass diese Klinik auch ein Ort ist, wo Menschen, wenn für sie der Augenblick da ist, auch Antwort oder wenigstens eine Anregung für ihre Sinnfrage finden können. Schon die heutige Gepflogenheit, Menschen rechtzeitig klar zu sagen, dass das Ende bevorsteht, kann eine Chance sein, sich nochmals der entscheidenden Frage des Lebens zu stellen. Je mehr von Ihnen, die hier arbeiten - nicht nur der Krankenhausseelsorger - sich selber schon diesen existenziellen Fragen gestellt haben, desto größer ist für die Patienten die Chance, dass sie hier in der Klinik in einer Extremsituation einem Menschen begegnen, der ihnen das rechte Wort sagen oder die passende Geste vermitteln kann, damit Heilung und Heil von diesem Ort ausgehen können. Mit dem Ausdruck Heilung und Heil ist auch die Klammer zum Institut hergestellt, aus dessen Mutterschoß die Klinik vor 50 Jahren entwachsen ist und sich inzwischen schon recht erwachsen fühlt. Und ich hoffe und wünsche, dass dieser jahrzehntelange Zusammenklang von Institut und Klinik auch in Zukunft weiterklingt und dass dieser Zusammenklang in den Ohren und Herzen der Menschen einen guten Klang behält und ein Hoffnungszeichen bleibt in unserer Welt, weil Institut und Klinik in der täglichen Praxis ihrem Motto und ihrem Markenzeichen gerecht werden, Heilung und Heil zu vermitteln an viele Menschen - hier bei uns und in der weiten Welt.
Abt Fidelis Ruppert OSB
Abtei Münsterschwarzach