Opfer der Röntgenstrahlen
Unterernährte und geschwächte Bevölkerung,
Verbreitung der Tuberkulose ... dies waren die traurigen Folgen des chinesisch-japanischen
Krieges, der sich immer mehr in die Länge zog. Öffentliche Durchleuchtungen
werden durchgeführt, und der täglich zunehmenden Zahl von Patienten
schließen sich nun endlose Reihen von Schulkindern und Arbeitern an.
Die Techniker der
Röntgenabteilung werden einer nach dem andern zur Armee einberufen, und
bald bleibt Doktor Nagai allein mit einer Krankenschwester zurück. Da
photographische Platten nicht mehr aufzutreiben sind, können die Patienten
nur noch durchleuchtet werden. Bei jeder Durchleuchtung verstreuten sich
jedoch eine nicht geringe Anzahl Strahlen, die Doktor Nagais Körper zugrunde
richteten. Neben dieser anstrengenden Arbeit hatte er infolge Personalmangels
weitere Verpflichtungen im Spital und im Luftschutzverband übernommen,
die seine Kräfte vollends aufzehrten. Es genügte, ihn nach getaner
Arbeit, auf zwei Bambusstöcke gestützt, heimkehren zu sehen, um
sich über seinen Gesundheitszustand ein Urteil zu bilden.
An einem Junimorgen
1945, bevor die leidende Menge seiner Patienten auftauchte, wollte er sich
über seinen Gesundheitszustand vergewissern:
«Schalten
Sie bitte den Apparat ein», sagte er zu seinem Assistenten.
«Aber, Herr Doktor, es ist noch kein Patient da.»
«Hier ist
der Patient», antwortete er und zeigte auf seinen abgemagerten Körper.
«Und der Arzt?»
«Da ist er», und Nagai zeigte auf seine Augen.
Bei der Durchleuchtung
seines eigenen Körpers fuhr Nagai plötzlich zusammen: Auf der linken
Hälfte des Schirmes erschien eine breite schwarze Fläche: die Milz.
Eine Milz von ungeheurem Ausmaß, welche Herz, Magen und Gedärme
zerdrückte. Milz-Hypertrophie! Leukämie!
Blitzartig sah
sich Nagai nach Hamburg versetzt; im Garten des St.-Georgs-Spitals stand
ein Gedenkstein: «Opfer ihrer Untersuchungen der Röntgenstrahlen:
John Edwards, Albertz Schonberg, Lombard.» Leise betete er vor sich
hin: «Herr, ich bin nur ein unnützer Diener, doch Dein Wille geschehe.»
Und allmählich erlangte er wieder den inneren Frieden. Er ließ
alle Techniker und Assistenten zu sich kommen: «Schauen Sie gut zu,
ich kann Ihnen eine Krankheit zeigen, der man nicht oft begegnet: die Leukämie.»
Dann verlangte er die Diagnose Doktor Kageuras, des Chefarztes der Abteilung
für Innere Medizin. Sie lautete: «108000 weiße und 3 Millionen
rote Blutkörperchen. Lebensdauer ungefähr drei Jahre.» Doktor
Kageuras Diagnose stimmte also mit derjenigen Nagais überein.