Bis zum Tode dienen
Im Frühjahr 1947 legte sich Nagai zu Bett; er sollte
es nicht mehr verlassen. Er mußte nun auf seinen Lehrstuhl verzichten
und sah sich nun jeglichen Einkommens beraubt. Wie wollte er für seine
Kinder aufkommen? «Mein Kopf kann noch arbeiten. Augen, Ohren und Hände
sind noch tüchtig. Ich kann schreiben!» Und Nagai nahm die Arbeit
in Angriff. «Meine lieben Kinder, liebet Eure Nächsten wie Euch
selbst! Das sind die Worte, die ich Euch vermache; mit diesen Worten werde
ich dieses Schreiben beginnen, vielleicht werde ich es mit denselben Worten
abschließen und auch zusammenfassen.» Das waren die Worte, welche
Nagai am Anfang seines Werkes «Meine lieben Kinder» setzte, einer
Sammlung von Ratschlägen an seine eigenen Kinder Makoto und Kayano,
die er bald verlassen sollte. Nagais Vorbild allein hätte genügt,
diese Botschaft in ihre Herzen einzuprägen: war doch das ganze Leben
ihres Vaters nichts anderes gewesen als Nächstenliebe und heldenhafte
Aufopferung, die ihn nun zum Tode führten. Dieser Nächstenliebe
wollte sich Nagai bis zu seinen letzten Stunden widmen.
Er lag auf dem
Rücken und benutzte zum Schreiben eines dieser kleinen Zeichenbretter,
wie sie die Schüler brauchen. Unter solchen Umständen zu arbeiten
ist schon für gesunde Leute nicht bequem. Man kann sich daher die Mühe
und Anstrengung des Kranken vorstellen. Im Jahre 1947 schrieb er: «Infolge
der abnehmenden Zahl der roten Blutkörperchen kann ich keine neuen
Kräfte mehr sammeln. Mein Gehirn ermüdet rasch und erschlafft.
Ich genieße wohl etwas Koffein, aber man muß sich vor dessen
Mißbrauch hüten. Ich beabsichtige, andere Reizmittel zu gebrauchen.»
Ein amerikanischer Hauptmann schenkte ihm einen Sack Kaffee und machte ihm
damit die größte Freude: «Dank Ihrer Güte werde ich
wieder arbeiten können!»
Er notiert weiter:
«Als ich um ein Uhr morgens erwachte, war das Fieber gesunken. Ich
trank etwas Kaffee aus der Thermosflasche und konnte bis sieben Uhr schreiben.
Ich bin mit der Arbeit gut vorangekommen!» Bald sollte er nur noch
nachts schreiben können, denn schon früh meldeten sich die ersten
Besucher.
Ein sich näherndes
Klappern von Holzschuhen, ein «Guter Tag» erschallt auf der Türschwelle,
die Papierwand wird beiseite geschoben und ein lächelndes Gesicht erscheint!
Obwohl sein Manuskript bald abgegeben werden und es daher rasch beendigt
sein sollte, zeigte der Doktor seinen Besuchern gegenüber nie ein Zeichen
von Ungeduld: «Diese Besuche stören mich, aber diese Leute sind
so freundlich, hierher zu kommen; muß ich nicht versuchen, ein wenig
Freude in ihre Herzen zu gießen und ihnen von unserer katholischen
Religion zu sprechen? Ich kann sie doch nicht fortschicken ... !»
Ein anderes
Mal ist es der Besuch von Kindern einer Primarschule: «Sie hätten
das sehen sollen! Alle standen vor meiner Wohnung in Reih und Glied. Der Lehrer
kehrte mir den Rücken und erklärte ihnen: Hier ist die berühmte
Hütte 'Zur Nächstenliebe'. Dieser Mann ist Doktor Nagai. Schaut
Euch das gut an, nicht wahr! Ich habe wirklich den Eindruck, ein sehenswürdiger
Bär aus dem zoologischen Garten geworden zu sein! Aber schlußendlich,
wenn ich doch mein Leben der Menschheit widme, will ich gern ein Bär
aus dem zoologischen Garten, oder irgend etwas anderes sein, wenn ich diese
Kinder auf der Schulreise ergötzen kann! »
So vergingen
der Tag mit Besuchen und die Nacht mit Bücher schreiben. Das Fieber stieg
täglich über achtunddreißig Grad. Seine Kräfte nahmen
ab: er mußte immer weichere Bleistifte benützen, damit man seine
Schrift überhaupt noch lesen konnte. Unter diesen Umständen veröffentlichte
er fünfzehn Bände in vier Jahren. Darunter befanden sich mehrere
Bestseller, welche in Japan Aufsehen erregten. Sein berühmtestes Werk
«Die Glocken von Nagasaki» wurde durch eine berühmte Theatergruppe
inszeniert und erschien außerdem noch auf der Leinwand.
Welches Ziel
hatte sich Doktor Nagai in seinen Schriften gesetzt? Zunächst wollte
er einen genauen Tatsachenbericht über die Explosion der Atombombe hinterlassen,
welcher wertvolles Untersuchungsmaterial zur weiteren Erforschung in internationalem
Recht, Medizin, Physik und Industrie liefern, der aber somit zur Festigung
des Friedens beitragen sollte. Durch seine radiologischen Forschungsarbeiten,
seine gewonnene persönliche Erfahrung anläßlich der Explosion
und der Behandlung der Opfer, durch seinen Aufenthalt an der Unglücksstätte
fühlte sich Doktor Nagai zu dieser Arbeit verpflichtet. Wenn jemand
das Recht und sogar die Pflicht hatte, zugunsten des Friedens und im Namen
der Opfer der Atombombe seine Stimme zu erheben, so war gewiß er dazu
berechtigt. Er war unter anderem überzeugt, daß ein dauerhafter
Friede nur auf den Gedanken der Liebe des Katholizismus und dessen Verbreitung
aufgebaut werden konnte. Als Gläubiger fühlte er sich berufen,
die christliche Botschaft zu verbreiten.
Aus dem Ertrag
seiner mühsam geschriebenen Werke verteilte Nagai über zwei Millionen
Yens (zirka 30 000 Schweizerfranken) als Spende zum Wiederaufbau von Kirchen
und Schulen und trug somit zur geistigen Wiedergeburt seiner Heimat bei.
Nach Abzug der Steuern blieb ihm von seinem sauer verdienten Geld wenig für
seine persönlichen Bedürfnisse übrig; aber trotz der nicht
niedrigen Steueransätze erachtete es Doktor Nagai als seine Pflicht,
den letzten verdienten Rappen anzugeben. Viele waren über die vom Staate
erhobenen Summen empört. Er antwortete: «Dieses Geld dient zum
Wiederaufbau Japans. Für diesen Wiederaufbau arbeite ich, und mit Freude
bezahle ich diese Steuern. Jetzt, wo ich für mein Land das Höchste
leisten sollte, liege ich im Bett. Es ist nicht ausgeschlossen, daß
ich nicht nur zum Wiederaufbau nichts beitragen kann, sondern, daß
ich sogar dem Lande mit meinen beiden Kindern und meiner Mutter zur Last
falle. Diese Gedanken haben mich sehr beunruhigt. Wie glücklich bin
ich nun, zur gemeinsamen Arbeit ein wenig beigetragen zu haben!»
Sein andauerndes
Lächeln drückte nicht Mutlosigkeit, noch weniger Selbstzufriedenheit
aus. Es war ein schönes geistiges Lächeln, Ausdruck seiner Freude,
auf dieser Erde noch arbeiten zu können und seiner Hoffnung auf das
kommende ewige Leben. Lächeln und Humor verheimlichten sein Leiden. Bis
zur letzten Stunde suchte er die Wahrheit zu ergründen und opferte sich
auf für seinen Nächsten.